Rezension zu Kruse: Vom Leben und Sterben im Alter

Andreas Kruse

Leben und Sterben im Alter - Wie wir das Lebensende gestalten können

Kohlhammer, 2021 | ISBN 978-3-17-040586-8
Der prominente Gerontologe Andreas Kruse legt mit seinem neuesten Buch ein in jeder Hinsicht fundiertes Argumentarium für eine bessere Gestaltung der letzten Lebensphase vor. Für ihn gibt „es kaum ein wichtigeres Thema für den einzelnen Menschen als ein menschenwürdiges Sterben“. (S.37)

Er baut seine wissenschaftliche, klar gegliederte Problemanalyse auf zigfache empirische Daten und Studien auf. Alles dient dem Ziel, eine bessere Gestaltung diverser, oft unbeachteter Potenziale der letzten Lebensphase konkret zu befördern. Er würdigt ausdrücklich schon bestehende Richtlinien und gute Praxis der palliativen Versorgung. Immer wieder greift er auf zahlreiche philosophische und anthropologische Erkenntnisse aus vielen Jahrhunderten zurück. Immer wieder stellt er Alltagsfragen und beantwortet diese mit Darstellungen und ausführlichen Zitaten anderer wissenschaftlicher Autoren aus Philosophie, (Existenz-)Psychologie, Sozialwissenschaft, Pflegewissenschaft, Medizin, Ethik, Theologie. Last not least formuliert er auch seine Kritik an der mangelhaften Betreuungspraxis in der letzten Lebensphase in vielen Klinken (u.a. S. 153), wobei vorwiegend unterschätzte Schwierigkeiten einer qualitativen Kommunikation mit Patienten, aber auch die mangelhafte Abstimmung und Koordination aller behandelnden, pflegenden und betreuenden Professionen (S. 126) untereinander sowie die falsche Konzentration auf rein medizinisch/leibliche „Heilung“ im Vordergrund stehen. Worauf es ihm ankommt, ist eine neue „Gesprächskultur“ (S.223) - ein „Verhalten, Entscheiden und Handeln“, das den Patienten Sicherheit gibt, „angenommen und geachtet zu sein, nicht alleingelassen zu werden.“ (S.27). Das bedeutende Merkmal an diesem Buch ist, dass er aus der reichlich verarbeiteten, wissenschaftlichen Literatur zu jeder einzelnen Teil-Lebensphase oder Symptomatik positive und praktisch bewährte (und belegte!), konkrete praktische „Botschaften“ (S.154) übernimmt oder neu formuliert.

Hier sei nur ein Beispiel zur Veranschaulichung herausgegriffen: Kruse schildert die große Bedeutung des „Lebensrückblicks“ (S.41ff) und rahmt diesen in das Persönlichkeitsentwicklungsmodell von Erik und Joan Erikson (S.51), deren Konzept von acht Lebensphasen „immer auch als psychosoziale Krisen zu verstehen sind“. Wie in einem Kaleidoskop verdeutlicht er daran anschließend die „Generativität und Ich-Integrität“ sowie „Transzendenzleistungen“ und ihrer drei Weiterungen: Das Individuum muss lernen,
1. „die starke Konzentration auf den Körper aufzugeben, und seelisch-geistigen Prozessen eine deutlich größere Bedeutung einräumen.“ (mit Bezug auf Robert Peck)
2. „die stark ausgeprägte, wenn nicht sogar einseitige Identifikation mit seinen beruflichen Leistungen (oder Mißerfolgen) nach und nach aufzugeben.“
3. die „starke Konzentration auf das Ich muss im hohen Alter überwunden werden, zugunsten einer Einfügung der eigenen Existenz in eine umfassendere, kosmische Ordnung“ (alle Zitate dieses Lernens s.S.56)
Auf den folgenden Seiten erfolgt eine zusätzliche „Weiterungen“ in eine 9. Entwicklungsphase mit der Ausbildung von „Vertrauen und einem Autonomiegefühl“, das einen in die Lage versetzt, seine „Autonomie auch dann bewahren zu können, wenn man Einbußen in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit“ wahrnimmt. (S.57). Später folgt dann im Kapitel 6 eine beeindruckende Schilderung des notwendigen Unterstützungsbedarfs auch bei Demenz in der letzten Lebensphase.

Kruse ist es wichtig, die Schuld an Mängeln nicht bei dem überforderten Personal abzuladen. Er unterschätzt die zu erwartenden Widerstände nicht, sondern benennt auch deren Ursachen, z.B. eine „ausgeprägte emotionale Reserviertheit gegenüber Menschen, die uns an die eigene Vergänglichkeit erinnern.“ (S.30f.) Von Anfang an formuliert er die gesellschaftspolitische Verpflichtung (auch als Herausforderung, S.301), „sicherzustellen, dass alle Menschen (unabhängig von ihrem Stande) einen Ort und eine Art fachlicher und menschlicher Begleitung finden, die sie in die Lage versetzen, sich auf das eigene Sterben einzustellen und ihr Leben auch am Lebensende zu gestalten.“ (S.9)
Der systematische, personelle Ressourcen- und Zeitmangel und die regional lückenhafte Versorgung (S.230) kommt ebenso zur Sprache wie die zum Teil unbeholfene, kommunikative Einstellung des hauptamtlichen Personals. Hinzu kommt das „Bedrohungspotential eigener Art“, das sich daraus ergibt, dass der „kurative Erfolg weiterhin als der maßgebende Organisationskern des Krankenhauses gilt“ (S. 168, Zitat von Hartmut Remmers). Daraus ergibt sich dann die Gefahr der „Medikalisierung des Lebensendes“ (S.169f). Im Kontrast dazu steht dazu sein „ganzheitlicher Anspruch“ (S.300) und seine detaillierte Vorstellung einer anspruchsvollen Begleitung und Versorgung von Menschen in ihrer letzten Lebensphase. Diese Gestaltungsaufgabe zielt auf die Stärkung der Selbstverantwortung (Kapitel 5 u. S.300) und gewinnt durch die Fülle der angesprochenen Aspekte eine große Überzeugungskraft.

Besonders eindringlich verweist Kruse auf die Volatilität der unterschiedlichen Todeswünsche am Lebensende (S.225) und führt anschließend die „rechtliche, die wissenschaftliche und die ethische Perspektive“ (S.233) zusammen. Aus seiner Sicht sind diese Wünsche nicht einfach hinzunehmen, sondern reale Bedürfnisse und Nöte der Sterbenden besser zu identifizieren und zu befrieden. Damit stärkt er die Bereitschaft, der voreiligen Sterbehilfe entgegenzutreten und übernimmt die von der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften erstellten Voraussetzungen einer persönlich verantworteten Entscheidung (S.238f). Die Sterbehilfe als solche wird damit nicht verdammt, sondern an klare Kriterien gebunden.

Was das Buch von einer „normalen“ wissenschaftlichen Veröffentlichung unterscheidet: Er eröffnet an einzelnen Stellen dieser für viele Menschen schwer zu verarbeitenden Thematik immer wieder einen ungewöhnlichen Zugang mit diversen kommentierten Gedichten und Hinweisen auf Musik. Kein Wunder, dass er sein Schlusskapitel „Coda“ genannt hat.

Insgesamt ein Buch, das als Lehrbuch in jede medizinische und pflegerische Aus- und Weiterbildung gehört (vergl.S.303 ff), zumal es eine ganze Reihe komprimierter Darstellungen der wesentlichen Erkenntnisse anderer, auch internationaler bedeutender Wissenschaftler (z.B. Elisabeth Kübler-Ross, Viktor Frankl, R.N. Butler, Viktor von Weizsäcker, Hannah Arendt) enthält. Auch fachliche und wirtschaftliche Entscheider im Gesundheitsbereich sowie alle Hospizhelfer könnten von einer Lektüre erheblich profitieren, weil sich daraus eine ganz tiefe, ungewohnt differenzierte Problem- und Chancenwahrnehmung ergibt. Man kann dazu nur mit Kant rufen: „Sapere aude!