Leseköder zu Georg Cremer: Sozial ist, was stark macht

Warum Deutschland eine Politik der Befähigung braucht und was sie leistet

Georg Cremer, selbst einst Chef der Caritas, entwirft in diesem Buch eine grundsätzlich neue Sozialpolitik von Grund auf: Mit einem „empathischen Blick auf die Realität“ (S.76) und durchsetzt mit Sätzen wie in Stein gemeißelt verdeutlicht er das größte Defizit des auf Umverteilung konzentrierten Sozialstaats: „Aber Umverteilung reicht nicht, um Menschen stark zu machen, damit sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen können.“ (S.9) Cremers Anspruch ist glasklar: Auf der Grundlage des Befähigungsansatzes von Amartya Sen, den er im 2.Kapitel ausführlich darstellt, geht es ihm schlicht um eine „anspruchsvolle Reformpolitik“, die „das befähigende Potential der vorhandenen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Initiativen möglichst gut“ erschließt: „Sozial ist, was Menschen schützt und sie zugleich stärkt.“ (S.13)
Im Ansatz von Amartya Sen sind die „Verwirklichungschancen“ die „entscheidende Währung, um die Lebensbedingungen von Menschen zu beurteilen“. Daraus werden konkretisierte „persönliche und soziale Umwandlungsfaktoren“ im Sinne „realer Freiheiten“ (S.24ff) abgeleitet, die im Begriff der „Befähigungsgerechtigkeit“ (S.29f) münden: Diese wird im 3.Kapitel auf einzelne „Felder der Befähigung“ (ab S. 37) übertragen, wobei die dort jeweils bestehenden systematischen Defizite und politischen Grabenkämpfe schonungslos offengelegt werden: Von Bildung (S.37- 68), geht es weiter zum Sozialstaat: Hier erläutert Cremer das Konzept der „Selbstwirksamkeitserwartung“ von Albert Bendura: „Wer sich selbst nur eine geringe Selbstwirksamkeit zutraut, neigt dazu, seine Erfahrungen in selbstwertschädigender Weise zu interpretieren.“ (S.73) Die buchstäblich notwendige Selbstwirksamkeitserwartung muss gefördert, die Gesellschaft muss dazu ermutigen, damit der „Teufelskreis“ von geringen Chancen, das „Präventionsdilemma“, verhindert wird. Dabei geht es auch um „frühe Hilfen“ (ab S.79), „Haushaltsorganisationstraining“ (ab S.85), „sozialen Arbeitsmarkt“ (ab S.88), „Befähigung zum Umweltschutz“ (ab S.95), Beendigung des Sozialstaats als „Verschiebebahnhof“ (ab S.97): „Wo aber die rechtlichen Regelungen Kooperation erschweren (oder zumindest nicht erleichtern), können alle, die bisherige Routinen weiterführen wollen, sich hinter ihnen verschanzen.“ (S.101). Cremers Konzept einer sinnvollen „Reformarbeit in den Mühen der Ebene“ (S.102) führt unmittelbar in das Prinzip der „Sozialraumorientierung“: „Menschen sollen in ihren sozialen Bezügen als aktive Subjekte wahr- und ernstgenommen werden.“ (S.104). Dabei warnt Cremer vor zwei Herausforderungen. Erstens: „Die Debatte hierzu wird aber zu abstrakt geführt, das Ausmaß konzeptioneller Rhetorik steht in einem Missverhältnis zur Verbreitung des Konzepts.“ (S.105) und ermutigt zugleich: „Dort, wo politischer Wille bei Kommunen und hartnäckige Veränderungsbereitschaft bei sozialen Trägern zusammenkommen, werden auch Wege gefunden, Ansätze sozialstaatlicher Arbeit und den Koordinationsaufwand, der damit verbunden ist, zu finanzieren.“ (S.107) Und Zweitens: „Die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats wird ganz wesentlich davon mitbestimmt, wie seine Akteure in Kommunen, Wohlfahrtsverbänden und in den Tausenden sozialen Einrichtungen agieren, wie sie dort Menschen entgegentreten, die ihre Ansprüche nicht kennen oder nicht so geübt sind, sie durchzusetzen.“ (S.112) Dieses Phänomen bezeichnet er als „untergesetzliche Umsetzung“, die genauso wichtig sei wie die Gesetzgebung selbst. Er baut diesen Ansatz im 9.Kapitel in eine richtig verstandene Stadtentwicklung ein (ab S.117), bei der auch die Quartiere aufgewertet werden (ab S.122). Das 10.Kapitel beginnt mit einem besonders überzeugenden Paukenschlag: Unter der Überschrift: „Der Staat schafft es nicht allein“ verwehrt sich Cremer gegen die Verunglimpfung des bürgerschaftlichen Engagements als „Lückenbüßer“ oder „Gedöns“ und leitet dessen Bedeutung „nicht aus realen oder vermeintlichen Defiziten staatlichen Handelns her. Es ist Ausdruck bürgerlicher Freiheitsrechte, des Rechts aller, sich aus eigener Entscheidung zu engagieren, sich in Bürgervereinen und Initiativen zusammenzuschließen und sich für eine Ausgestaltung und Entwicklung des Gemeinwesens einzusetzen, wie es ihren jeweiligen, keineswegs harmonisch übereinstimmenden Vorstellungen entspricht. Die bürgerschaftliche Selbstorganisation verträgt sich nicht mit staatlicher Allzuständigkeit, diese entspricht einer Staatsgesellschaft statt einer Bürgergesellschaft.“ (S.127)
Daran schließen sich Ausführungen zu den ehrenamtlichen „Akteuren der Befähigung“, insbesondere Paten und Mentoren (ab S.129) an sowie zu den Gelingensbedingungen, demonstriert an einigen erfolgreichen Projekten sowie ausführliche Erläuterungen zu den notwendigen Maßnahmen der „Befähigung zum Ehrenamt“ (ab S.135), wobei er auch nicht auslässt, die Unentgeltlichkeit des Ehrenamts als Hürde zu kritisieren. (S.137).
Aus aktuellem Anlass schließt sich daran ein Kapitel über den Sozialstaat in der Pandemie an.
In den Schlusskapiteln führt er die politische Debatte um mögliche Einwände gegen den Befähigungsansatz und räumt durch fundamentale Argumente mit etlichen Vorurteilen auf, gipfelnd in der Aussage: Eine Politik der Befähigung wird, „wenn sie wirksam sein will, nicht umhinkommen, Menschen zu ermutigen, ihre Fähigkeiten so anzuwenden, dass sie diese erhalten können. Sie wird auch Einfluss auf ihre Wahlentscheidungen zu nehmen versuchen. Eine Politik der Befähigung muss sich der Frage stellen, wieweit Menschen auch vor sich selbst zu schützen sind. Die radikale Verdammung jeglicher Fürsorge als unbilliger Eingriff in die Autonomie der Menschen führt uns nicht weiter. In unserer Rechts- und Sozialordnung war eine solche Radikalposition nie durchzuhalten.“ (S.191) Und noch deutlicher: „Wer Ungleichheit begrenzen will, muss sich um die Prozesse kümmern, die Ungleichheit wachsen lassen und verfestigen, bevor die Maschinerie des umverteilenden Sozialstaats überhaupt einsetzt.“ (S. 204) Abschließend erläutert Cremer die Anschlußfähigkeit des Befähigungsansatzes an unterschiedliche politische Denktraditionen (ab S.207), er wehrt sich gegen die „Utopiefalle“ eines bedingungslosen Grundeinkommens (S.213) und verweist auf den „Anspruch, mehr Befähigungsgerechtigkeit zu verwirklichen“ als eine „produktive Orientierung, gerade in einem Land, das über ein gut ausgebautes Bildungssystem und einen umfangreichen Sozialstaat verfügt, aber deutlich hinter seinen Möglichkeiten bleibt, Menschen zu unterstützen, ihre Potentiale zu entfalten.“ (S.214).

Ein in jeder Beziehung lesenswertes Buch, vor allem für Menschen, die sich für mehr Gerechtigkeit engagieren.

 

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