Leseköder zu Joachim Detjen – Demokratische Streitkultur in Zeiten politischer Polarisierung

Detjen - Streitkultur

Baden-Baden, 2023, ISBN 978-3-7560-0787-5 (Print) ISBN 978-3-7489-1544-7 (epdf)

245 Seiten, € 54,-

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Mit diesem Buch legt Joachim Detjen eine philosophisch fundierte, von ihm selbst als „synoptisch“ (S. 225) bezeichnete Darstellung,  sozusagen einen Stammbaum der polarisierenden politischen Argumentationen vor. Für die anstehende „Sisyphusarbeit des Diskurses“ (Pörksen) liefert er eine konkrete, sehr differenzierte Argumente-Morphologie, die Diskutanten als Erkenntnishilfe dabei dienen kann, rechtzeitig die Ursachen und Abwege der Polarisierung als Gefahr für die demokratische Streitkultur zu erkennen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Im Kern geht es Detjen dabei um Argumentationen gegen den politischen Extremismus von rechts und links. Als Staatsbürger stellt er mehrfach klar: „Der demokratische Verfassungsstaat selbst besteht aus einem komplexen Gefüge von Werten. Es geht an die Substanz des demokratischen Verfassungsstaates, wenn in streitigen Diskursen diese Werte angegriffen werden. Die angestrebte demokratische Streitkultur ist nämlich genauso wenig neutral wie die auf ihre Förderung gerichtete politische Bildung.“ (S. 223) Besonders deutlich wird das bei dem von ihm beschriebenen „Vergiftungsgrad des Streitklimas“: „Die kulturalistische Linke dominiert die Diskurse über Fragen des gesellschaftlichen Lebens“ (S. 129, 138 u. ähnlich 226). Hauptgrund für seine Einschätzung ist die Tendenz der Linken zu „Artikulationsverboten“ und „Ausschließungen einer bestimmten Auffassung“. (S. 148) Er fordert: „Politische Diskurse dürfen nicht aus-, sondern müssen einschließen, wenn sie das Gütesiegel der Demokratie für sich in Anspruch nehmen. Tun sie das nicht, sind sie elitär, exklusiv und begründen die kulturelle Hegemonie derjenigen, die als Ideen- und Diskurswächter für Ausschließungen gesorgt haben.“ (S. 148) Sein Buch richtet sich konsequenterweise in erster Linie an die demokratische Mitte. Im „institutionalisierten Streit der Demokratie“ (S. 146) muss seines Erachtens die Mitte „deutlich vernehmbar“ (S. 165) werden: „Die Demokratie hat die Beiträge aus den Randzonen in der Hoffnung hinzunehmen, dass sie genügend Widerspruch finden – und zwar nicht nur aus der jeweils entgegengesetzten Randzone, sondern vor allem aus der Mitte.“ (S. 166)

Zusammenfassung:

In mehreren Kapiteln werden alle Aspekte, grundlegende politische, ethische und ideologische Voraussetzungen, bewusste Regelverletzungen und alle möglichen Phänomene und Taktiken der politischen Polarisierung analytisch detailliert seziert und bewertet. Es handelt sich eigentlich um ein sehr lesenswertes Handbuch zur politisch polarisierenden Rhetorik, das jedem empfohlen werden kann, der sich dem politischen Streit aussetzt und/oder in der politischen Bildung tätig ist. Auch die gezielte Lektüre einzelner Kapitel ist zu empfehlen.

Stichwortartige Zusammenfassung der einzelnen Kapitel:

Im 1. Kapitel wird der Sinn des Streitens in Anlehnung an Dahrendorf verdeutlicht: „Wandel und Fortschritt beruhen letztlich auf der konstitutionellen Ungewissheit der menschlichen Existenz. Deshalb bleibt die Gesellschaft so lange menschlich, wie sie das Kontroverse in sich lebendig erhält. Nicht die utopische Harmonie, sondern die nach Spielregeln zugleich bewältigten und erhaltenen Spannungen machen den lebenswerten Charakter der Gesellschaft aus.“ (S. 21)

Im 2. Kapitel wird die sehr weit gefasste, fundamentale Meinungsäußerungsfreiheit als Voraussetzung politischen Streits sowie die Legitimation gesetzlicher Grenzen grundsätzlich erläutert. Das ist gerade in heutiger Zeit besonders wertvoll, weil vorschnell mit Verbotsforderungen für rechtsextremistische Parteien hantiert wird.

Im 3. Kapitel geht es um die Streitursachen, die in der „anwachsenden Pluralität von Identitäten und Lebensformen“ sowie in der vom „wissenschaftlich-technischen Fortschritt verursachten Erweiterung von Entscheidungsgegenständen“ (S. 51) ausgemacht werden. Es folgt die aufschlussreiche Beschreibung von Konflikttypen (S. 52 ff.), Streitmodi und Konfliktfeldern (S. 55 ff.) und deren Eigenarten. So werden die unterschiedlichen Verständigungsmöglichkeiten oder Unvereinbarkeiten von Interessen und Werten gut sichtbar.

Im 4. Kapitel geht es um die Akteure und Arenen politischer Polarisierung, in der auch Indikatoren der politischen Polarisierung nach zwei Intensitätsgraden entwickelt werden. Die moderate Form ist die „polarisierte Meinungslandschaft“, (S. 73) bei der „zwei weit auseinanderliegende Ansichten diskursbestimmend werden und Mittelpositionen weitgehend stumm bleiben“ (S. 73f.) – es entsteht die „polarisierte Gesellschaft“ (S. 76): „Die beiden Auffassungen finden Anhänger. Deren Verhältnis ist von gegenseitiger Geringschätzung bestimmt.“ (S. 74) Diese politische Polarisierung kann nach Detjen „bedrohliche, den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdende“ Züge annehmen, „wenn sich die Lager nicht mehr als legitime politische Gegner betrachten, sondern in der jeweils anderen Seite einen existenziellen Feind sehen.“ Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist zudem dann gefährdet, wenn „die polaren Lager so stark geworden sind, dass sie glauben, auf mäßigende Stimmen nicht mehr hören zu müssen.“ (S. 75) Der alle Zweifel ausschließende „Gewissheitsanspruch“ der betreffenden Positionen hat bei Infragestellung „aggressive Reaktionen“ und „Beschimpfungen“ zur Folge, was viele Menschen spüren und sie vermeiden dann streitige Diskussionen.

In einer angemessen vereinfachten Form führt Detjen die Herkunft der politischen Polarisierung auf den „Links-Rechts-Gegensatz“ zurück und benutzt dafür unter Rückgriff auf Wolfgang Merkel die Kluft zwischen den Konstrukten „Kosmopolitismus“ (links) und „Kommunitarismus“ (rechts) bzw. zwischen „universalistischer und partikularistischer Gesellschaftsauffassung.“(S. 79 f.) Dabei steht der linken „Erweiterung der Solidaritätsbezie-hungen auf die gesamte Menschheit“ die rechte „Begrenzung der Solidaritätsbeziehungen auf die Angehörigen des eigenen Gemeinwesens“ gegenüber. „Werden die beiden Auffassungen kompromisslos vertreten und kommt es zudem zu Moralisierungen ist Polarisierung die Folge“ – eine Aussage auch mit Verweis auf Andreas Rödder. (S. 80) „Beobachter sind sich einig, dass der Kosmopolitismus den öffentlichen Diskurs beherrscht, zählen zu seinen Anhängern doch die Eliten aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Medien.“ (S. 81). Seine Argumentation ist durchgehend schlüssig, auch wenn er an dieser Stelle nur einen einzigen, wenn auch prominenten Wissenschaftler als Quelle anführt. Die kosmopolitischen Eliten hätten die Vertreter des Kommunitarismus auf den „politisch-moralischen Index“ gesetzt und verweigerten den Diskurs – und genau das habe zur Polarisierung beigetragen und sei „eine Ursache für das Aufkommen einer populistischen Revolte“. (S. 81) Rechte und linke Identitäten werden wegen ihres „großen Polarisierungspotenzials“ als „größte Gefahr für die Liberalität“ ausführlich beschrieben (S. 82 ff.), anschließend die „populistischen Verstärkungen der politischen Polarisierung.“ (S. 88 ff.) Die „leise Stimme der politischen Mitte“ (S. 91ff.) wird als entscheidender Mangel der demokratischen Streitkultur bewertet.

Im 5. Kapitel geht es insgesamt um „polarisierungsfördernde Kommunikationsprozesse“ und deren jeweilige Ausformungen und problematischen Folgen: Moralisierung (S. 96 ff.), Sprachlenkungen (S. 104 ff.), Provokationen (S. 108 ff.), Verschwörungserzählungen (S. 114 ff.).

Im 6. Kapitel (ab S. 121) wird eine Phänomenologie des politisch polarisierten Streitklimas entwickelt, die Detjen unter Bezug auf mehrere anderen Autoren als „Polarisierten Streit über angemessenes Kommunizieren“ und als „Kampf um die Deutungshoheit“ und Hegemonie bezeichnet, die zu einer „Gesinnungstyrannei und letztlich zu einer Gleichschaltung des Denkens“ (S. 123) führen muss. Er zeigt einige beispielhafte „Indikatoren“ (S. 124 f.) für Verhaltensweisen im politisch polarisierten Streitklima auf und begründet, warum sie bedrohlich für die Demokratie sind. Auch wenn man die Erwähnung des Wortes „Bürgerkrieg“ (S. 127) übertrieben findet, ist – gerade nach den aktuellen Demonstrationen – die Aussage richtig, dass die „Kampfparole ‚gegen rechts‘ unterstellt, dass es keine rechten politischen Akteure gibt, die den demokratischen Verfassungsstaat bejahen und deshalb einen legitimen Anspruch auf politische Mitgestaltung haben.“ (S. 130 f.) Sehr ausführlich bewertet Detjen das „verengte Meinungsspektrum als Folge repressiv ausgeübter Diskurshoheit“ (S. 134 ff.) und belegt seine Bestandsaufnahme mit etlichen Zitaten und Beispielen auch aus der Geschichte, die er sinngemäß auf die Gegenwart anwendet. Die konkreten „Schädigungen der Demokratie durch polarisierten Streit“ (S. 39 ff.) werden in einzelnen Begriffen verdeutlicht: „Diffamierung, Diskriminierung, Verunglimpfung, Empörung, Diskursblockaden“ (S. 139), wobei er die Schuldigen nicht nur am rechten Rand sieht: „Der von der kulturalistischen Linken ausgehende Konformitätsdruck tut der politischen Kommunikation in der Demokratie in mehrfacher Hinsicht nicht gut.“ (S. 140) Und viele begeben sich unter diesem Druck in die bekannte „Schweigespirale“ (Noelle-Neumann) und/oder weichen dann in eigene Diskursräume im Internet aus. (S. 141)

Im 7. Kapitel werden die „Umrisse einer demokratischen Streitkultur“ als „normativer Begriff“ vorgestellt, „mit dessen Hilfe sich angeben lässt, wie politischer Streit ausgetragen werden sollte und welche Voraussetzungen bei den Streitakteuren dafür vorliegen müssen (S. 145). Vom Ausgangspunkt, dass „Demokratie nichts anderes ist als institutionalisierter Streit“ (S. 146) werden viele – zumeist unausgesprochene – Selbstverständlichkeiten als „unerlässliche Funktionen“ (S. 147) des politischen Streitens dargestellt: Es „entstehen im geglückten Fall Aufklärung, Identifikation mit dem Gemeinwesen und demokratische Mündigkeit.“ (S. 147) Detjen argumentiert fundamental für das „Erfordernis weitgefasster Meinungsäußerungs-freiheit“ (S. 149) und ergänzt seine Ausführungen mit „Stimmen aus der politischen Ideengeschichte“ (S. 156 ff.) mit zahlreichen eingefügten Quellen-Zitaten. Schließlich fasst er alles bereits Erörterte in mehreren konkreten „Erwartungen der Demokratie an die Praxis des politischen Streitens“ (S. 161 ff.) zusammen. Bemerkenswert ist dabei die siebte Erwartung, „dass die Streitakteure sich nicht von „Dummheitskulturen“ leiten lassen. Dazu zählt er „Fundamentalismus und Fanatismus, dogmatische Weltanschauungen und Ideologie sowie Verschwörungstheorien.“ (S. 167)

Im 8. Kapitel werden die „Tugenden des politischen Streitens“ (S. 177 ff.) anhand der „überlieferten Tugendethik“ näher bestimmt. Es geht von der „Klugheit“ über „Mäßigung“ zur „Zivilität“ dann zum 9. Kapitel mit den „Merkmalen zivilisierten politischen Streitens.“ (S. 187 ff.) Detjen definiert – wie an anderen Stellen auch – ganz idealtypisch: „Zivilisiert ist ein Streit dann, wenn der Kontrahent als Gegner gesehen wird, wenn der Streit den Regeln des auf Verständigung und Wahrheitsfindung zielenden Dialogs und nicht denen des auf Überwindung des Kontrahenten angelegten Kampfes folgt. Es gilt, auch mit denjenigen zu streiten, die völlig anders, ja entgegengesetzt oder ‚ungewöhnlich‘ denken.“ (S. 187). Diese Linie befolgt er konsequent und spricht auf der Grundlage der „Meinungsautonomie“ von einer „Pflicht zur verantwortungsvollen Meinungsbildung“ (S. 191) – sowie von den Hürden, die dabei überwunden werden müssen: „Die wichtigste Hürde für die Meinungsautonomie liegt in der Bequemlichkeit, die mit der kritiklosen Übernahme fremder Meinungen verbunden ist.“ (S. 192). Seine „Maximen zivilisierten Streitens“, das er als ein „dialogisch-rationales Streiten“ einstuft, sind „an der Klärung einer strittigen Sache orientiert“ (S. 193), schließen auch Phasen harter, ja polarisierender Konfrontation nicht aus und verlangen entsprechende Fähigkeiten: „Die Fähigkeit, Schwächen und Ungereimtheiten, ethische Fragwürdigkeit oder eklatante Uninformiertheit im Standpunkt des politischen Gegners zu erkennen und rhetorisch prägnant und kraftvoll, vielleicht auch polemisch, auf den Punkt zu bringen, gehört zu den Schlüsselkompetenzen politischer Kommunikation.“ Er zeigt dann aber im Sinne von Karl Jaspers „liebenden Kampf“ zugleich notwendige Wege der „sprachlichen Depolarisierung“ (S. 195 f.) auf und geht dann auf die Wichtigkeit des „aktiven Zuhörens“ ein. (S. 196) Er stellt klar: „Verstehen ist jedoch nicht identisch mit Verständnis und noch weniger mit Einverständnis.“ (S. 197) Als letztes Mittel in Extremsituationen bleibt das Dilemma „Diskursverweigerung“ (S. 201 f.) und – mit Bezug auf Carlo Strenger und Thea Dorn – die „zivilisierte Verachtung“ als „Fähigkeit zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren.“ (S. 203).

Es kann nicht verwundern, dass Detjen schließlich im 10. Kapitel die „Förderung der demokratischen Streitkultur“ (S. 205 ff.) als „Kernaufgabe der politischen Bildung“ (S. 207) fordert und detaillierte Vorstellungen im Sinne des „Kompetenzmodells der politischen Bildung“ hat: „Die Einbürgerung in das Gemeinwesen und die politische Mündigkeit bilden den normativen Rahmen für die Ausbildung von Streitkompetenz.“ (S. 210) Als „Komponenten der Streitkompetenz“, werden Dissenstoleranz, Kommunikationskompetenz, Konfliktkompetenz, Kritikkompetenz (S. 211 ff.) aufgeführt und erläutert. Als Basis beruft sich Detjen auf den aus den 1970er Jahren stammenden und allgemein anerkannten Beutelsbacher Konsens: „Im Zentrum des Konsenses stehen das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot“. (S. 219 f.).

Am Ende des Buches findet man ein Zitat von Roman Herzog: „Streit ist ein Lebenselement der Demokratie – allerdings darf sich kein Schaum vor den Mündern der Streitenden bilden.“ (S. 229).

Eine umfangreiche Quellenliste mit mehr als 250 Einträgen, auf die in den Fußnoten verwiesen wird, schließt das Buch ab.

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