Warum Deutschland eine Politik der Befähigung braucht und was sie leistet
An abfälligen öffentlichen Äußerungen zu „Überalterung“, „Rentnerrepublik“
„Rentnerschwemme“ u.ä. hat es in den letzten Jahren nicht gefehlt – das defizit-orientierte Altersbild beherrscht die öffentliche Debatte und dementsprechend auch die angeblich nur durch die große Zahl der in Rente gehenden Babyboomer bedingte Kostenlawine im sozialen Sicherheitssystem.
Umso mehr muss das neue Buch begrüßt werden, das der Frankfurter Altersmediziner und Gerontologe Johannes Pantel mit einer immer noch erschreckenden, aber nüchternen, differenzierten und sorgfältig dokumentierten Bilanz über den öffentlichen Diskurs zum Alter und zum Verhältnis der Generationen in Deutschland vorgelegt hat. Der besondere Reiz des Buches besteht darin, dass er sich deutlich gegen den Mainstream stellt: Er dokumentiert und analysiert an zahllosen Belegen öffentliche Äußerungen zum gesellschaftlich tiefsitzenden, defizit-orientierten Altersbild. Die damit einhergehenden, unausgesprochenen, aber falschen Annahmen und ethischen Maßstäbe widerlegt er ebenso wie die zu Unrecht oft ausschließlich auf die negativen Folgen der Alterung heraufbeschworene demografische und politische Krise. Er beschwört geradezu die Wiederherstellung der durch diese Einseitigkeit gefährdeten, gesellschaftlichen Solidarität zwischen den Generationen. Dabei ruft er konstruktiv dazu auf, die weitverbreiteten, aber nur scheinbar bestehenden gegensätzlichen Interessen in der Generationen- und Nachhaltigkeitsdebatte zu überwinden, um zu vermeiden, dass der bisherige kalte Krieg in einen heißen Krieg der Generationen mündet. Ein längst fälliger Vorstoß eines alten weißen Mannes, der dazu aufruft, aus den kommunikativen Generationsgräben herauszukommen und sich gemeinsam der Aufgabe zu stellen, eine nachhaltige Zukunft gesellschaftspolitisch zu gestalten. Bravo kann man dazu nur sagen.
Dass die Quellenverweise und Anmerkungen zusammen mit der ausführlichen Literaturliste 25 Seiten umfassen, belegt die Gründlichkeit, mit der dieses Buch geschrieben worden ist. Man kann nur wünschen, dass sich möglichst viele gesellschaftspolitisch interessierte und engagierte Personen dieses Buch lesen und sich entsprechend in die Gestaltung der Politik in Deutschland einbringen.
Er resümiert gleich zu Beginn: „Das dicke Ende kommt noch“ und „wir haben bisher noch keine nachhaltige Lösung dafür gefunden.“(S.21ff). Danach wendet er sich dem gesellschaftlichen Generationenverhältnis zu und kommt damit zu einem ersten Schwerpunkt des Buches: dem „schleichenden Gift der Gerontophobie“ (S.40ff) und welch verheerende Wirkung „negative Altersstereotype“ entfalten. Er benennt zu Recht den angeblichen
Generationenkonflikt in einen „Verteilungskonflikt“ um.(S.56) Nüchtern zeigt er die langfristig absehbaren Finanzierungsprobleme sowie die Stellschrauben auf, die sozialpolitisch bedient werden müssten, um eine Tragfähigkeit herzustellen.(S.60ff). Nach einer Erörterung der Triage-Problematik (S.89ff) verdeutlicht Pantel die offene und verdeckte „Rationierung von Versorgungsleistungen bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit im Alter“ (S.91ff) und deren Ursachen (S.97ff). Dieser Lagebericht schließt mit 6 Krisen-Thesen zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die in der Aussage kulminieren: „Die alten Menschen von Morgen werden die Verlierer sein.“ (S.105)
Geradezu erschreckend gerät sein Ausflug in die Literatur und Geschichte des Senizid/Gerontozid (S.108ff), der mit seiner scharfen Warnung schließt: „auch moderne. ‚aufgeklärte‘ Gesellschaften (sind) nicht vor einer Reaktivierung des Senizids gefeit, wenn sich Kosten-Nutzen-Kalkül im gesellschaftlichen Umgang mit alten Menschen mit einer Aufweichung bzw. Eliminierung ethischer Standards paart.“ (S.118) Mit großer Präzision und mit Zahlen/Studien weist Pantel die bereits heute (meist verdeckt) stattfindenden „verdeckten Tötungen“ nach und wie diese gesundheitspolitisch auch in der Form der „Altersrationierung“ gedeckt wird. (S.131f, sowie S.179ff). Der gefährliche Pflegenotstand, der sowohl die professionelle als auch insbesondere die familiäre Pflege zunehmend überfordert (S.140ff) wird verdeutlicht. Angesichts der absehbaren zukünftigen Entwicklung fordert Pantel eine „gesellschaftliche Kraftanstrengung, die neben Kreativität auch den guten Willen aller Beteiligten voraussetzt.“ (S. 145)
Folgerichtig beschreibt Pantel die Umfunktionierung des durch Verfassungsgerichtsurteil etablierten „Rechts auf selbstbestimmtes Sterben“ in eine „moralische saubere Selbstentsorgung“ (S.146) und wie das funktioniert – auch in Holland, wo der Zustand des „slipery slope“ schon eingetreten ist.
„Abrüstung beginnt in den Köpfen“ (S.184) ist Pantels „Gebot der Stunde“ (S.242) im letzten Teil seines Buches. Er fordert „Differenzierung statt Polarisierung“ (S.185) auf allen Seiten. Das soll in Schulen sowie an Universitäten und Hochschulen beginnen mit der Vermittlung realistischer Altersbilder und Begegnungsprojekten sowie Generationendialogen. (S.189ff) Er fordert: „Zahlen hinterfragen“, um eine „differenzierte Betrachtung der Realität“ (S.197) zu erhalten und „Komplexität zu beachten“ (S.200) und schließlich: „Alte Menschen besser schützen“ (S.204).
Dazu gehören für ihn „Prävention von Gewalt in der häuslichen (privaten) Pflege“ (S.209), rechtliche Schutzlücken für Altersdiskriminierung schließen.“ (S. 211)
Seinen politischen Ausgangspunkt für alle Handlungsempfehlungen verdeutlicht er mit der Aussage, „dass die größten Gerechtigkeitsdefizite nicht zwischen, sondern innerhalb der Generationen zu beklagen sind…Das setzt jedoch voraus, gesamtgesellschaftliche Verteilungsfragen nicht ausschließlich durch die Generationenbrille zu sehen.“(S.233)
„Politik gestaltet die Rahmenbedingungen, in denen sich solidarische Generationsbeziehungen verwirklichen können.“ (S.216) Er erklärt die Herausforderung zur „politischen Querschnittsaufgabe“ (S.231) und gibt in folgenden Handlungsfeldern konkrete Anregungen: Altersrente gerecht gestalten (S.217ff), gerechte und transparente Priorisierung in der Gesundheitsver-sorgung, Klimagerechtigkeit. Dabei stellt er klar: „Die Unterstellung, dass bei den meisten alten Menschen die Haltung ‚Nach mir die Sintflut!‘ vorherrscht, geht an der Realität vorbei.“ (S.230)
Am Ende listet Pantel die gemeinsamen Interessen aller Generationen (S.234ff) ausführlich auf und gibt auch dazu Anregungen für Dialoge, z.B. Arbeitsmarktpolitik und Arbeitswelt, Bildung, Sozialpolitik, Migrationspolitik, Staatsfinanzen, Umwelt und Klima.
Fazit: Ein überzeugender Aufruf zum notwendigen gemeinsamen Handeln. Um mit Kant zu sprechen: Der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit steht an: Sapere aude!